Liebe S!Dizens,
es geht Schlag auf Schlag im weekly. Diese Woche ist ein Energieexperte, LinkedIn Reichweiten-Chefboss und S!D Keynote-Speaker am Start: Tim Meyer. Seine Perspektive nimmt industrielle Dynamiken in den Blick. Ohne große Vorrede, ich mach die Bühne frei:
Die größte Chance der Energiewende: dass wir ihre globale Dynamik unterschätzen
Die kriegsbedingten Preisextreme an den Gas- und Strommärkten haben zeitweise überdeckt, was nach einfacher Marktlogik unausweichlich erscheint: der Wert für Wind- und Solarstrom verfällt mit steigendem Ausbau der erneuerbaren Energien. Projektentwickler, Investoren und Banken blicken mit Sorge auf die Preisszenarien für die nächsten Jahrzehnte und stellen die berechtigte Frage, wie sich insbesondere neue Solarkraftwerke in diesem Umfeld refinanzieren sollen. Bisher konnte der dramatische Verfall der Modulpreise, gestiegene Zinsen und sinkende Marktwerte kompensieren, aber langsam scheint das Ende der Fahnenstange erreicht zu sein. „Das kann doch gar nicht funktionieren.” Oder?
Rückblick: Die Geschichte industrieller Umwälzungen ist voll unterschätzter Dynamiken. Auch in der Energiebranche. Die globale Mengen- und Preisentwicklung der Photovoltaik wurde seit Jahrzehnten selbst von Solarenthusiasten und Industrie-Insidern immer wieder unterschätzt - und erst recht von Akteuren der eher klassischen Energiewelt: über 400 GW installierte Leistung weltweit im Jahr 2023! Zehn Jahre zuvor war es noch ein Zehntel davon. Die Modulpreise liegen heute bei knapp einem Sechstel des Preises von 2013. Der Grund? Industrielle Massenfertigung. Kleinteilig und millionenfach hergestellte Technologien wie Solarzellen und -module skalieren extrem schnell, sowohl bzgl. der technologischen Weiterentwicklung als auch der Kosten.
Aber wie soll bei aktuell nur noch knapp über 10 ct/W Modulpreisen diese Industriemechanik gegen die Kannibalisierung am Strommarkt ankommen? Gar nicht. Doch sie kann ebenso mächtig auf der Nachfrageseite während der solaren Mittagsspitze wirken: über Batteriespeicher. Seit Jahren ist bei Batterien eine analoge Volumens- und Preisentwicklung zu beobachten – sogar noch schneller als bei der Photovoltaik.. Und die Entwicklung bei den Batterien wird ebenso systematisch unterschätzt wie zuvor jahrzehntelang die Entwicklung der PV. Alleine in den letzten 6 Jahren wurde ohne jegliche Förderung in Deutschland annähernd so viel Speicherleistung installiert wie seit den 1930er Jahren als Pumpspeicher. Klar, die Kapazität ist noch viel kleiner, aber die Entwicklung wird deutlich.
Werden Speicher also wie von Zauberhand die Strompreise stabilisieren und so den Markt für neue Solarkraftwerke retten? Leider nein. Das Wachstum des Speichermarktes hing bisher am Segment der Privathäuser, Stichwort Eigenverbrauchsoptimierung. Aber die Regulierung kann Hemmnisse für den Speicherausbau im Gewerbe- und Projektbereich abbauen und mit gezielten Anreizen eine wirkmächtige Dynamik auslösen. Abbau von Netzanschlusskostenbeiträgen oder Vereinfachungen bei Genehmigungen und Anlagenzertifizierungen sind dabei nur ein (wichtiger) Teil der Lösung. Der größte Hebel wird sein, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen.
Denn die Vorbereitung der Verteilnetze auf Energiewende wurde in den letzten Jahrzehnten freundlich ausgedrückt „verschlafen“. Nicht nur organisatorische Engpässe, sondern mangelnder Netzausbau und Digitalisierung verhindern mittlerweile insbesondere in ländlichen Regionen den Anschluss neuer Anlagen. Netzplanung und -ausbau dauern Jahre und sind teuer. Also gilt es, bestehende Betriebsmittel besser auszulasten. Das geht mit: Speichern, d.h. mit der zeitlichen Verteilung von Einspeisespitzen. Allerdings können und dürfen Netzbetreiber das nicht in der erforderlichen und möglichen Geschwindigkeit. Daher muss „Netzdienlichkeit“ regulatorisch als Geschäftsmodell für Marktakteure möglich werden. Dann kommt Schwung in die Sache.
Ein weiterer „schlafender Riese“ der Energiewende: die Flexibilisierung von Lasten. Unsere Netzentgeltstrukturen stammen aus der Steinzeit und bestrafen in vielen Anwendungen die Flexibilisierung sogar. Die Modernisierung der Netzentgeltstrukturen ist regulatorisch anspruchsvoll und wird seit Jahren auf die lange Bank geschoben. Jetzt muss der Riese aber aufgeweckt werden.
Ich bin überzeugt: mit entfesselten Märkten für Speicher und Flexibilität kann eine wesentliche Stabilisierung von Marktpreisen auch in erneuerbaren Erzeugungsspitzen marktlich (!) gelingen. Diese Möglichkeit wird so wie die Treiber dahinter systematisch unterschätzt. Und erst wenn diese Mittel ausgeschöpft sind, sollten wir über neue Fördermechanismen im Energiemarkt reden.
Epilog: heutige Fundamentalmodelle können solche Markt- und Industriedynamiken nicht sauber und „bankable“ abbilden. Sie neigen aus meiner Sicht prinzipbedingt dazu, Innovation und industrielle „Kipppunkte“ zu unterschätzen. Das macht das Problem für Projektentwickler, Banken und Investoren für heutige Entscheidungen nicht kleiner. Aber es zeigt die Richtung auf, in die wir schnell gehen müssen.
Tim Meyer
Wir sind gespannt auf Feedback, Widerspruch, Zustimmung. Reibung erzeugt Energie, und davon brauchen wir reichlich.
Auch kommende Woche reichen wir die Tasten weiter, seid gespannt, es geht in eine ganz andere Richtung, aber nicht minder relevant. Und wenn Du auch was zu sagen hast: Einfach melden. Torben und ich freuen uns auf frische Impulse.
Liebe Grüße,
Euer Eike